Liebe Kolleginnen
und Kollegen,
die Bezeichnung „Internationale Beziehungen“ (IB) eignet sich wohl immer weniger, um zu beschreiben, womit sich die Forscherinnen und Forscher beschäftigen, die dieser politikwissenschaftlichen Teildisziplin formal zugerechnet werden. Treffender erscheint der Begriff „Weltpolitik“. Er umfasst nicht nur die Themengebiete der „klassischen“ IB wie Forschung zur Außenpolitik von Staaten, zu internationalen (Regierungs-)Organisationen und Regimen, zu Aspekten des Rechts, der Weltwirtschaft oder Geschlechterfragen, sondern auch den jüngeren Bereich der Transnationalismusforschung. Weltpolitik verweist also auf menschliches Handeln, das sich inner- und außerhalb nationaler Grenzen auswirkt und dessen Folgen inner- wie außerhalb nationaler Grenzen kollektiv zu regulieren versucht werden.
Wie aber wird „Weltpolitik“ erforscht?
Zur Beantwortung dieser Frage sucht der vorliegende Call for Papers Beiträge zu einem Band über „Rekonstruktive Methoden der Weltpolitik-Forschung“ (der als Handbuch in der Reihe „Forschungsstand Politikwissenschaft“ bei Nomos erscheinen wird).
Rekonstruktiven (oder interpretativen) Vorgehensweisen im Sinne des geplanten Bandes ist gemein, dass sie auf einer aus Neugier sich speisenden offenen Forschungshaltung beruhen und auf Theoriegenese zielen. Bei der Auswertung des „Datenmaterials“ wird entsprechend darauf verzichtet, den Gegenstand in vorgefertigte Kategorien einzuordnen. Stattdessen unternehmen die ForscherInnen den Versuch, offen zu bleiben, für Deutungen, die ihre Vorüberlegungen - Vorwissen wie Vorurteile - überschreiten. Rekonstruktive Vorgehensweisen liegen quer zu der gängigen Differenzierung in qualitative und quantitative Methoden. Vorschläge auf Basis quantitativer Methoden sind ebenso willkommen wie solche, die sich der im engeren Sinne „interpretativen“ Klassiker wie Diskursanalyse, Grounded Theory oder Objektiver Hermeneutik bedienen. Entscheidend ist die Bereitschaft der ForscherInnen, sich von ihren Untersuchungsgegenständen überraschen zu lassen und so neue An- und Einsichten hervorzubringen. Nach unserem Verständnis zielt rekonstruktive Forschung also auf Hypothesen- und Theoriegenese und beschränkt sich nicht auf die Subsumtion des Materials unter bereits bestehende Hypothesen und Theorien.
Rekonstruktive Vorgehensweisen entstanden zumeist nicht innerhalb der Politikwissenschaft, sondern wurden von SoziologInnen, EthnologInnen, KulturwissenschaftlerInnen, usw. konzipiert. Um ihr Potenzial voll auszuschöpfen, bedarf es einer „Übertragung“ auf die Gegenstände der Weltpolitik. Solche Anwendungen in ihrer Vielfalt zu versammeln, ist das Ziel des geplanten Bandes. Beitragen können daher alle Kolleginnen und Kollegen, die im Rahmen abgeschlossener Forschungsvorhaben einschlägige Erfahrungen mit intensiven Prozessen rekonstruktiver Weltpolitik-Forschung erworben haben. Aufgrund dieser intensiven Forschungsprozesse sollten die Beiträge plausible Antworten auf folgende Fragen geben können:
- Aus welchen Gründen ist eine (soziologische, ethnologische, usw.) Methode zur Untersuchung eines bestimmten Untersuchungsgegenstands der Weltpolitik „geeignet“? - Kann diese Methode unverändert „übernommen“ oder muss sie modifiziert werden? Wenn eine Methode modifiziert werden muss: wie? - Wonach wird geforscht? Was ist der Untersuchungsgegenstand? Wie lautet die Forschungsfrage und auf welchen (meta-)theoretischen Annahmen basiert sie? - Wie werden die Daten erhoben bzw. nach welchen Kriterien werden sie ausgewählt? - Wie werden die Daten ausgewertet bzw. bearbeitet? (Werden Computer-Software oder andere Hilfsmittel eingesetzt, welche und wie?) - Wie wird der Rekonstruktionsvorgang organisiert? Wie wird sortiert, wie für Übersichtlichkeit gesorgt bzw. entlang welcher Systematik wird nach Verbindungen zwischen den Eigenschaften des Gegenstands Ausschau gehalten? - Wie wird der Prozess der Theoriegenese gestaltet? - Erfolgt eine Reflektion der Frage, welchen Gütekriterien sozialwissenschaftliche Rekonstruktionen genügen müssen, um als „wissenschaftlich“ zu gelten und die scientific community zu überzeugen? - Welche Probleme müssen gelöst bzw. welche Schwierigkeiten müssen bearbeitet werden, um zu einem überzeugenden und kohärenten Forschungsergebnis zu gelangen? - Auf welche Art und Weise werden die Befunde der Arbeit dargestellt? - Welche Ansprüche an die Gültigkeit (Validität) und „Wahrheit“ der Resultate des Forschungsvorhabens werden gestellt? - Welche Einwände könnten gegen die gewählte Vorgehensweise vorgebracht und wie kann diesen begegnet werden? - Welche weitergehenden Modifikationen der ursprünglich eingesetzten Instrumente und Verfahren erscheinen aus welchen Gründen künftig naheliegend und hilfreich?
Im Lichte dieser Fragen sollen die Beiträge des Bandes die konkreten Verfahrensweisen erfolgreich abgeschlossener Forschungsvorhaben darstellen und so praktizierte Forschungsarbeit mit rekonstruktiven Methoden der Weltpolitik-Forschung nachvollziehbar machen. Die Beantwortung dieser Fragen soll in einer Form erfolgen, die es (in der Regel an einem bestimmten Forschungsgegenstand interessierten) Leserinnen und Lesern erlaubt, sich ein Bild von der praktischen Anwendung der jeweiligen Forschungsinstrumente zu machen.
Wer zu dem hier skizzierten Handbuch
„Rekonstruktive Methoden
der
Weltpolitik-Forschung“ einen Beitrag leisten möchte, die/der
sende bitte bis
spätestens 15. September 2012:
-
ein
aussagekräftiges „Proposal“ des geplanten Beitrags, das sich an
den oben
aufgeführten Fragen orientiert und nicht mehr als 1.500 Wörter
umfasst (als Word-Datei)
sowie -
das
Methodenkapitel des abgeschlossenen Forschungsvorhabens, welches
als Grundlage
des Handbuchbeitrags dienen soll (als PDF-Datei)
an:
Ulrich
Franke, Universität Bremen, ulrich.franke@iniis.uni-bremen.de
und
Ulrich
Roos, Universität Augsburg, ulrich.roos@phil.uni-augsburg.de.
Nach Auswahl der Beitragenden gestaltet sich das weitere Verfahren wie folgt: Die Einladungen zur Verfassung eines Beitrages für den Band werden gemeinsam mit den das Handbuch strukturierenden Leitfragen und einer Erörterung didaktischer Ziele Anfang November 2012 versandt. Einsendefrist für die Beiträge ist der 15. März 2013 (Die Fristen der sich daran anschließenden Überarbeitungsrunde und das Einreichen der finalisierten Fassungen werden im Laufe des gemeinsamen Arbeitsprozesses festgelegt).
Mit besten Grüßen Ulrich Franke und Ulrich Roos |